Ausstellungstitel: Achtunddreissig Dinge

Nr. 11/38

Päpstliches Privileg für die medizinische Fakultät zur Vornahme von Sektionen

Päpstliches Privileg für die medizinische Fakultät zur Vornahme von Sektionen

Großpönitentiar Giuliano della Rovere, Kardinalbischof von Sabina; 2. April 1482; Ausfertigung, Pergament;
Schreiberunterschrift auf dem umgefalteten Teil der Urkunde, Taxvermerk darunter.
An Hanfschnur angehängtes rotes, spitzovales Wachssiegel (restauriert), im Siegelfeld thronende Gottesmutter
mit dem Christuskind in gotischer Architektur, darunter Schild mit gekreuzten Schlüsseln und Tiara,
Siegelumschrift (beschädigt): [S]IGILLUM OFFICII SACRE PENITENCIARI[E] [...]; 18 x 44 cm (ohne Siegel);
Universitätsarchiv Tübingen, UAT AS 20 /7a: Nr. 1
(Foto: Manfred Grohe)

Rechtssicherheit für den anatomischen Unterricht

Ausgehend von Italien wurde seit dem 13. Jahrhundert die Sektion menschlicher Leichname zunehmend in den anatomischen Unterricht der Universitäten einbezogen. So war in Tübingen nach den Statuten der Medizinischen Fakultät – ihre älteste überlieferte Fassung stammt von 1497 – alle drei oder vier Jahre eine Sektion vorzunehmen.
Dem stand jedoch die Bulle „Detestandae feritatis” Papst Bonifaz‘ VIII. aus dem Jahr 1299 entgegen, die als Verbot der Lehrsektion interpretiert wurde.
Die Tübinger Mediziner haben sich daher schon bald nach Gründung der Universität um einen päpstlichen Dispens bemüht, um die rechtlichen Voraussetzungen für eine zeitgemäße Lehre zu schaffen. Es war kein Geringerer als Graf Eberhard im Bart (1445-1496), der sich der Sache persönlich annahm, als er im Frühjahr 1482 mit großem Gefolge in Rom weilte. Bei der Audienz, die Sixtus IV. (1414-1484) dem Grafen am 28. März gewährte, dürfte neben wichtigen vermögensrechtlichen Angelegenheiten der Universität auch das Anliegen der Mediziner zur Sprache gekommen sein, und als Eberhard am 16. April die Heimreise antrat, hatte er die gewünschte Genehmigung im Gepäck.

Die Urkunde vom 2. April 1482, mit der Großpönitentiar Kardinalbischof Giuliano della Rovere (1443-1513) die Erlaubnis erteilte, die Leichname Hingerichteter zu anatomischen Sektionen zu verwenden, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Es handelt sich um die einzige Papsturkunde in den Beständen des Universitätsarchivs, das älteste der wenigen erhaltenen Schriftstücke aus den Anfangsjahren der Medizinischen Fakultät, den einzigen bekannten Dispens dieser Art für eine Universität im Reich und nicht zuletzt um ein Dokument der Medizin- und Kulturgeschichte überhaupt .Erstmals 1778 im Göttinger „Magazin vor Aerzte” publiziert, wird sie seither in der Literatur immer wieder erwähnt, freilich oft ohne Kenntnis des Wortlauts und ungenau als „Bulle” bezeichnet, mit der Sixtus IV. die allgemeine Unsicherheit hinsichtlich der Sektion beseitigt habe.
Kunsthistoriker weisen darauf hin, dass ohne die freiere Haltung, die hier zum Ausdruck komme, künstlerische Spitzenleistungen wie die eines Michelangelo, der selbst anatomische Studien getrieben hat, nicht vorstellbar seien. Derselbe Giuliano della Rovere, der 1482 als Großpönitentiar für Tübingen urkundete, erteilte 1508, nachdem er im Jahr 1503 als Julius II. den Stuhl Petri eingenommen hatte, Michelangelo den Auftrag für das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle. Eine ganz andere Frage ist es, wie häufig die Tübinger Mediziner von dem ihnen erteilten Privileg tatsächlich Gebrauch machten. Dazu schweigen die Quellen.

Johannes Michael Wischnath

- Kretschmer, J. (Red., o. J. [1974]): Die Sammlungen der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Tübingen : 20-21. [Dort S. 21 die hier auf S. 93 wiedergegebene Übersetzung von Gerhard Fichtner].
- Schmugge, L. (1989): Leichen für Heidelberg und Tübingen. In: Schwab, D. / Mikat, P. (1989): Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat. Berlin : 411-8. [Dort S. 418 die hier auf S. 93 wiedergegebene Transkription des lateinischen Originals].
- Schultz, B. (1986): A Fifteenth-Century Papal Brief on Human Dissection. Medical Heritage Jan./Feb. : 50-6.

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