Großpönitentiar Giuliano della Rovere, Kardinalbischof von Sabina; 2. April 1482;
Ausfertigung, Pergament;
Schreiberunterschrift auf dem umgefalteten Teil der Urkunde, Taxvermerk
darunter.
An Hanfschnur angehängtes rotes, spitzovales Wachssiegel (restauriert),
im Siegelfeld thronende Gottesmutter
mit dem Christuskind in gotischer Architektur, darunter Schild mit gekreuzten
Schlüsseln und Tiara,
Siegelumschrift (beschädigt): [S]IGILLUM OFFICII SACRE PENITENCIARI[E]
[...]; 18 x 44 cm (ohne Siegel);
Universitätsarchiv Tübingen, UAT AS 20 /7a: Nr. 1
(Foto:
Manfred Grohe)
Ausgehend von Italien wurde seit dem 13. Jahrhundert
die Sektion menschlicher Leichname zunehmend
in den anatomischen Unterricht der Universitäten
einbezogen. So war in Tübingen nach den Statuten
der Medizinischen Fakultät – ihre älteste überlieferte
Fassung stammt von 1497 – alle drei oder vier
Jahre eine Sektion vorzunehmen.
Dem stand jedoch
die Bulle „Detestandae feritatis” Papst Bonifaz‘
VIII. aus dem Jahr 1299 entgegen, die als Verbot
der Lehrsektion interpretiert wurde.
Die Tübinger
Mediziner haben sich daher schon bald nach Gründung
der Universität um einen päpstlichen Dispens
bemüht, um die rechtlichen Voraussetzungen für
eine zeitgemäße Lehre zu schaffen. Es war kein
Geringerer als Graf Eberhard im Bart (1445-1496),
der sich der Sache persönlich annahm, als er im
Frühjahr 1482 mit großem Gefolge in Rom weilte.
Bei der Audienz, die Sixtus IV. (1414-1484) dem Grafen am 28. März
gewährte, dürfte neben wichtigen vermögensrechtlichen Angelegenheiten der
Universität
auch das Anliegen der Mediziner zur Sprache
gekommen sein, und als Eberhard am 16. April die
Heimreise antrat, hatte er die gewünschte Genehmigung
im Gepäck.
Die Urkunde vom 2. April 1482, mit
der Großpönitentiar Kardinalbischof Giuliano della
Rovere (1443-1513) die Erlaubnis erteilte, die Leichname
Hingerichteter zu anatomischen Sektionen zu
verwenden, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert:
Es handelt sich um die einzige Papsturkunde
in den Beständen des Universitätsarchivs, das
älteste der wenigen erhaltenen Schriftstücke aus
den Anfangsjahren der Medizinischen Fakultät, den
einzigen bekannten Dispens dieser Art für eine Universität
im Reich und nicht zuletzt um ein Dokument
der Medizin- und Kulturgeschichte überhaupt .Erstmals 1778 im Göttinger
„Magazin vor Aerzte” publiziert, wird sie seither in der Literatur immer
wieder erwähnt, freilich oft ohne Kenntnis des Wortlauts
und ungenau als „Bulle” bezeichnet, mit der
Sixtus IV. die allgemeine Unsicherheit hinsichtlich
der Sektion beseitigt habe.
Kunsthistoriker weisen
darauf hin, dass ohne die freiere Haltung, die hier
zum Ausdruck komme, künstlerische Spitzenleistungen
wie die eines Michelangelo, der selbst anatomische
Studien getrieben hat, nicht vorstellbar
seien. Derselbe Giuliano della Rovere, der 1482 als
Großpönitentiar für Tübingen urkundete, erteilte
1508, nachdem er im Jahr 1503 als Julius II. den
Stuhl Petri eingenommen hatte, Michelangelo den
Auftrag für das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle.
Eine ganz andere Frage ist es, wie häufig die
Tübinger Mediziner von dem ihnen erteilten Privileg
tatsächlich Gebrauch machten. Dazu schweigen die
Quellen.
Johannes Michael Wischnath
- Kretschmer, J. (Red., o. J. [1974]): Die Sammlungen der
Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Tübingen : 20-21. [Dort S.
21 die hier auf S. 93 wiedergegebene Übersetzung von Gerhard
Fichtner].
- Schmugge, L. (1989): Leichen für Heidelberg und Tübingen. In:
Schwab, D. / Mikat, P. (1989): Staat, Kirche, Wissenschaft in einer
pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von
Paul Mikat. Berlin : 411-8. [Dort S. 418 die hier auf S. 93 wiedergegebene
Transkription des lateinischen Originals].
- Schultz, B. (1986): A Fifteenth-Century Papal Brief on Human
Dissection. Medical Heritage Jan./Feb. : 50-6.
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