Ausstellungstitel: Achtunddreissig Dinge

Nr. 18/38

Wachsmoulagen aus der zahnärztlichen Sammlung

Zerfallene Gummata der Zunge beim tertiären Stadium der Lues

Zerfallenes Gumma der Zunge beim tertiären Stadium der Lues
Um 1926 (?)
Wachsmoulage auf Holzunterlage
20 x 20 x 6 cm (mit Unterlage)
Zahnärztliche Sammlung der Zahnklinik Tübingen, Universität Tübingen

Zerfallene Gummata der Zunge beim tertiären Stadium der Lues

Hämangiom (gutartige Gefäßgeschwulst)
Signiert und datiert: „A. & P. Seifert, Atelier für wissenschaftliche Präparate u.
Modelle. – Berlin N. W., Stephanstr. 8. [handschriftlich durchgestrichen und korrigiert: Rathenower Str. 72.] / Haemangiom. / 14.7.1926“
Wachsmoulage auf Holzunterlage
23,5 x 16,5 x 12 cm (mit Unterlage)
Zahnärztliche Sammlung der Zahnklinik Tübingen, Universität Tübingen

Zerfallene Gummata der Zunge beim tertiären Stadium der Lues

Soor der Mundhöhle (Oidium albicans, syn. Candida albicans) beim Kleinkind
Um 1926 (?)
Wachsmoulage auf Holzunterlage
20 x 20 x 13 cm (mit Unterlage)
Zahnärztliche Sammlung der Zahnklinik Tübingen, Universität Tübingen

Vergilbte Antiquitäten

Die Idee, krankhafte Veränderungen des menschlichen Äußeren mit Wachs abzuformen, stammt aus Frankreich. Dort wurden schon im 18. Jahrhundert „Moulagen“ angefertigt, die als Lehrmaterial für Studierende und Ärzte Verwendung fanden. Einen regelrechten Boom erlebte die Moulagierkunst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Damals begannen auch an den Kliniken von Wien, Berlin und Breslau Moulageure damit, Ungewöhnliches und Faszinierendes in Wachs abzubilden.

Genau in diesem Punkt werden wir dann aber auch mit der Janusköpfigkeit der medizinischen Profession konfrontiert. Natürlich kann man den Lehrenden den ehrlichen Willen nicht absprechen, den Lernenden anschauliches Material an die Hand zu geben. Auf der anderen Seite ist es von der menschlichen Natur zu viel verlangt, wenn man ihr versagen will, sich für das Monströse, Groteske und Sensationelle zu interessieren. Dementsprechend steht die Moulagierkunst im breiten Spagat zwischen biederer Lehrmittelsammlung und reißerischem Panoptikum. Daneben ist die Medizin aber auch Moden unterworfen, und so wundert es uns nicht, wenn Moulagen einmal als Publikumsmagneten die Kassen großer Ausstellungen füllen, dann schließlich aber – wie unsere Tübinger Exemplare – als „vergilbte Antiquitäten“ auf dem Müll landen und von dort durch Dr. habil. Wolfgang Lindemann während des Umbaus der Alten Chirurgie in den 1990er Jahren gerettet wurden.

Dabei wäre es um die raren Stücke wirklich schade gewesen. Hämangiome (gutartige Gefäßgeschwülste: siehe Abb. 2) kennen wir zwar heute noch, und der Pilzbefall (Soor: siehe Abb. 3) von antibiotisch behandelten Säuglingen ist jeder Kinderkrankenschwester bestens vertraut, aber das Vollbild einer syphilitischen Erkrankung (siehe Abb. 1) ist für die meisten Mediziner heute pure Exotik. Das war nicht immer so. Ehe den Behandelnden wirksame Medikamente zur Bekämpfung der „Lustseuche“ zur Verfügung standen, konnten die Ärzte den Krankheitsverlauf im Wesentlichen nur beobachten und beschreiben. Deprimierend war, dass nach Jahren scheinbarer Gesundung die Krankheit aus heiterem Himmel wieder zum Ausbruch kam. Unter der Haut bildeten sich Knoten, die dann geschwürig zerfielen. Diese „Gummata“, wie sie wegen ihrer gummiartigen Konsistenz genannt wurden, stellten im Körperinnern – vor allem beim Befall großer Gefäße – eine tödliche Gefahr dar. Harmloser, aber entstellend und stigmatisierend war eine Manifestation an der Körperoberfläche.

Martin Widmann

Zurück