Ausstellungstitel: Achtunddreissig Dinge

Nr. 23/38

Kopfmodell für den "rassekundlichen" Unterricht

Kopfmodell für den „rassenkundlichen“ Unterricht

Kopfmodell für den „rassenkundlichen“ Unterricht. Sophie Ehrhardt / Hans Hirschhuber; um 1941;
bemalte Positiv-Abformmasse (Hominit); lebensgroß; aus der Sammlung des Anthropologischen Instituts, Schloss Hohentübingen;
Museum und Gedenkstätte Sachsenhausen (z. Zt. Leihgabe des Instituts für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie)

Sophie Ehrhardt beim Unterricht

Sophie Ehrhardt erklärt im Übungsraum Studentinnen die Variabilität der Schädellängen, 1951.
(Reproduktion: Stadtarchiv Tübingen, nach verschollenen Vorlagen aus dem Anthropologischen Institut Tübingen)

Übungsraum des Anthropologischen Instituts auf dem        Schloss Hohentübingen

Übungsraum des Anthropologischen Instituts auf dem Schloss Hohentübingen (heute: Bibliothek des Ägyptologischen Instituts);
in der Vitrine befinden sich die Kopfmodelle. Um 1950.
(Reproduktion: Stadtarchiv Tübingen, nach verschollenen Vorlagen aus dem Anthropologischen Institut Tübingen)

Ins Gesicht geschrieben? - "Rasse als Konstrukt"

Die Anthropologin Sophie Ehrhardt (1902-1990), von 1942 bis zu ihrer Pensionierung 1968 in Tübingen wissenschaftliche Mitarbeiterin des Anthropologischen Instituts, war 1938-42 an der Rassenhygienischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamts mit der Aufspürung, genealogischen Befragung und Vermessung von sog. Zigeunern beschäftigt, die aufgrund von rassischen Kategorien in „reinrassige Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ eingeteilt wurden. Durch solche Kategorien wurden später Tausende in Konzentrationslagern ermordet.
Ehrhardt sollte im Frühjahr 1940 und im Herbst 1941 die Erhebungen in Ostpreußen durchführen – sie erfasste dabei ca. 1000 Personen, die teils mit Polizeigewalt vorgeführt wurden. Bei dieser Gelegenheit fertigte sie von mehreren „Zigeunern“ Gesichtsabdrücke an und ließ am Anthropologischen Institut in München Kopfmodelle herstellen. In Tübingen erläuterte sie an Modellen von Zwillingsbrüdern noch lange nach Ende des „Dritten Reiches“ die äußeren anthropologischen Merkmale dieses Verwandtschaftsgrads. Ehrhardt ging – wie sie im März 1942 in der Zeitschrift „Volk und Rasse“ darlegte – von dem Konstrukt der „reinrassigen“, aus Indien ausgewanderten „Zigeuner“ aus, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter vermischten, aber immer noch als „fremdrassig“ kenntlich seien, was sie durch einen Vergleich mit den anthropometrischen Daten anderer, mitteleuropäischer „Volksgruppen“ zu belegen versuchte.
Sie hielt die „Zigeuner“ für „primitiv“, was sie u. a. an ihrer angeblich beharrlichen Nichtsesshaftigkeit festmachte. Diejenigen, die doch sesshaft wurden und einen bürgerlichen Beruf ergriffen, waren in ihrer Wahrnehmung sog. „Zigeunermischlinge“ mit einem hohen deutschen „Erbanteil“.

Teile der von ihr, Robert Ritter, Eva Justin und Adolf Würth 1938-42 erhobenen Daten verwendete sie in ihrer Habilitationsschrift von 1950 und später in einigen Aufsätzen. Unter ihrer Anleitung entstanden zwei Doktorarbeiten zu den „Hautleisten“ von „Zigeunern“, die – das wurde auch für die „Juden“ versucht – nach verlässlichen anthropometrischen Merkmalen suchten, um Menschen einer bestimmten „Rasse“ zuordnen zu können. Für die weitere Auswertung des „Zigeunermaterials“ erhielt sie 1966-70 finanzielle Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Ehrhardt war im Gegensatz zu radikalen Antiziganisten wie Hermann Arnold nicht daran beteiligt, die seit Jahrhunderten gegen „Zigeuner“ bestehenden Vorurteile auch nach 1945 publizistisch weiter zu verbreiten. Sie hatte jedoch keinerlei Bedenken, die „Zigeunermaterialien“ für ihre Forschungen zu verwenden.

So stehen die erhalten gebliebenen Kopfmodelle für eine Wissenschaft, die Menschen anhand von äußerlichen körperlichen Merkmalen in „rassisch“ defi- nierte Gruppen einteilte oder versuchte, ihren Verwandtschaftsgrad herauszufinden. Im Bereich der biologischen Anthropologie ist dieser Ansatz stark in den Hintergrund getreten – Verwandtschaftsverhältnisse können besser mit genetischen Methoden festgestellt werden.

Bernd Grün

- Hägele, U. (Hrsg., 1998): Sinti und Roma und Wir. Ausgrenzung, Internierung und Verfolgung einer Minderheit. Tübingen.
- Martin, R. / Saller, K. (Hrsg., 1957): Lehrbuch der Anthropologie in systematischer Darstellung mit besonderer Berücksichtigung der anthropologischen Methoden, begründet von Rudolf Martin. 3., völlig umgearbeitete und erweiterte Auflage von Karl Saller. Band I (mit 312 Abbildungen und 8 Musterformularen). Stuttgart.
- Universitätsarchiv Tübingen, UAT 288/5 [Reisebericht von Sophie Ehrhardt, ca. 1980].
- Zimmermann, M. (1996): Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“. Hamburg.

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