Negokoll-Moulagen eines weiblichen (links) und eines
männlichen (rechts) Gesichts von Lebenden, um 1952-68. Negativ-
Abformmasse (Negokoll); 31 x 19 x 15 cm (weibliches
Gesicht); 24,5 x 13 x 11 cm (männliches Gesicht);
(Foto: Wolfgang Gerber)
Gipsausguss der Hohlform einer spätmittelalterlichen
Pestleiche aus St. Dionysius in Esslingen, 1960-63. Gips;
86 x 45 x 21 cm (Kopf und Rumpf montiert zu einem
Stück);
(Foto: Wolfgang Gerber)
Die Gründung der heute zur Geowissenschaftlichen Fakultät gehörenden „Osteologischen Sammlung“ menschlicher Skelettreste geht auf den ersten Inhaber des Extraordinariates für „Rassenkunde“ an der Universität Tübingen, Professor Dr. rer. nat. Dr. med. W. Gieseler, zurück und damit auf das Jahr 1934. Ihm ging es getreu der Forschungsrichtung seines Lehrers Rudolf Martin († 1925) darum, die “Naturgeschichte des Menschen in ihrer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung“ zu erfassen. Für die Dokumentation der zeitlichen Dimension sammelte er vor allem menschliche Schädel aus aller Welt und als erster nicht nur Schädel, sondern erstmals auch Skelettreste des Postkranium aus prähistorischen Zeiten. Im Jahre 1973 wurde die Osteologische Sammlung einer eigenen Leitung unterstellt, ab 1982 war sie eine selbständige Einheit in Forschung und Lehre.
Die ausgestellten Raritäten aus der Osteologischen Sammlung dienten bis weit in die 1960er Jahre der Erfassung der natürlichen Variabilität des lebenden Menschen. Die Augen- und die Haarfarbentafel wurden als wissenschaftliche „Instrumente“ bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Rudolf Martin und Eugen Fischer entwickelt und benutzt. Durch die Nummerierung bzw. alphabetische Bezeichnung der Iris- und Haarfarben sollte eine Reproduzierbarkeit der Bestimmungen erzielt werden. Mit diesen beiden Instrumenten war eine Differenzierung nach „Rassen“ im Sinne von Unterarten (Subspecies) jedoch nicht möglich.
Erst als die Methoden der DNA-Analysen entwickelt wurden, verloren sie ihre Bedeutung vollständig. Daher verlagerte man die Augen- und Haarfarbentafeln als historische Instrumente in die Osteologische Sammlung. Sie werden nicht mehr hergestellt und auch nicht mehr benutzt. Die Moulagen zweier Gesichter (Abb. 1) gehören als Weichteilrekonstruktionen ebenfalls zu den seltenen Stücken dieser Sammlung und konservieren vergangene Methoden. Nur so konnte man vor der Zeit der digitalen Fotografie ein 3D-Bild von Personen, die untersucht wurden, herstellen. Die Methode wurde nach 1968 nicht mehr gelehrt und auch nicht mehr angewendet, zumal das Material, aus dem die Moulagen geformt wurden, nicht mehr produziert wurde.
Ein sehr seltenes Fundstück stellt der Ausguss einer Pestleiche aus der Zeit von 1275-1550 dar (Abb. 2). Dieser Tote wurde – wie 20 weitere aus dem Innenraum der Kirche St. Dionysius in Esslingen – vor der Bestattung vorschriftsmäßig mit ungelöschtem Kalk übergossen. Nach der durch den Kalk forcierten Verwesung des Toten blieb – wie bei einer Abformung – ein Hohlraum bis zum Zeitpunkt der Ausgrabung in den 60er Jahren des 20. Jh. erhalten. Der Ausguss des Hohlraumes zeigt den Toten, wie er kurz nach seinem Tode ausgesehen hat. Selbst die feinen Gewebestrukturen des Totenhemdes sind abgebildet.
Alfred Czarnetzki
- Ehrhardt, S. / Czarnetzki, A. (1985): Zum 50jährigen Jubiläum
des Instituts für Anthropologie und Humangenetik in Tübingen.
Gründung und erste 35 Jahre. HOMO – Zeitschrift für die vergleichende
Forschung am Menschen 36,1-2 : 84-94.
- Fehring, G. P. / Scholkmann, B. (1995): Die Stadtkirche St. Dionysius
in Esslingen a. N. Band 1: Die archäologische Untersuchung
und ihre Ergebnisse. Stuttgart.
- Martin, Rudolf (1914): Lehrbuch der Anthropologie in systematischer
Darstellung mit besonderer Berücksichtigung der anthropologischen
Methoden für Studierende, Ärzte und Forschungsreisende.
Jena.
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