Ausstellungstitel: Achtunddreissig Dinge

Nr. 36/38

Schädel nach Franz Joseph Gall

Schädel nach Franz Joseph Gall

Schädel nach Franz Joseph Gall, Jahr unbekannt; 17 x 13,5 x 19 cm (Schädel), 8,5 x
18,3 x 22 cm (Plexiglas-Sockel); Herkunft unbekannt;
Anatomisches Institut, Universität Tübingen.
(Foto: Manfred Mauz)

Detail des Schädels.

Detail des Schädels. (Foto: Manfred Mauz)

Rauf-, Würge- und Kunstsinn

Franz Joseph Gall (1758-1828) war überzeugt, dass die Großhirnrinde nicht einheitlich aufgebaut ist, sondern abgrenzbare Regionen mit unterschiedlicher Funktion aufweist. Er ist damit der Begründer der Lokalisationstheorie und ein Vertreter einer materialistischen Auffassung vom menschlichen Geist. Damit geriet er in Gegensatz zur kirchlichen Lehrmeinung, wurde aus seinen Ämtern in Wien entlassen und gezwungen, nach Paris zu übersiedeln.

Seine Lehre beruhte auf der Cranioskopie, der Betrachtung der Schädelinnenseite. Das dort (besonders in der vorderen Schädelgrube) zu beobachtende Oberflächenrelief erklärte Gall damit, dass Großhirnbereiche mit besonders starker Aktivität (analog zur Muskulatur) Vorwölbungen ausbilden, welche zu Abdrücken im Schädelknochen führen. Als Merkmale solcher geistiger Aktivität identifizierte Gall etwa 35 Charaktereigenschaften wie z.B. „Ruhmsucht und Eitelkeit“, „Raufsinn“, „Würgesinn“ „Kunstsinn“ und „Theosophie“. Mit dieser auf Intuition und Spekulation beruhenden Lehre der Phrenologie, dem Versuch also, Persönlichkeitsmerkmale und Schädelform in Beziehung zu setzen, fand Gall ebenso viele Anhänger wie erbitterte Gegner.

Aus heutiger Sicht ist festzustellen, dass zwei Grundannahmen von Gall durch die modernen Neurowissenschaften bestätigt werden: Dazu gehört zum einen die Lokalisationstheorie, nach der die Großhirnrinde in klar definierte funktionelle Areale gegliedert werden kann. Zum anderen hat sich gezeigt, dass das Volumen bestimmter Großhirnbezirke sich in Abhängigkeit von der Aktivität verändert: Verkleinerung bei Vernachlässigung und Vergrößerung bei Training (Repräsentation der Finger der linken Hand bei Geigespielern). Dagegen gibt es weder für die von Gall beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale noch für deren Lokalisation im Gehirn experimentell gesicherte Anhaltspunkte.

Hans-Joachim Wagner

- Finger, S. (2000): Minds behind the brain. A history of the pioneers and their discoveries. Oxford.
- Gall, F. J. (1822-26): Sur les fonctions du cerveau et sur celles de chacune de ses parties. 6 vol. Paris.
- Gall, F. J. / Spurzheim, J. C. (1810-19): Anatomie et physiologie du système nerveux en général, et du cerveau en particulier, avec des observations sur la possibilité de reconnaître plusieurs dispositions intellectuelles et morales de l‘homme et des animaux par la configuration de leurs têtes. 4 tomes. Paris.
- Young, R. M. (1970): Mind, Brain and Adaptation in the Nineteenth Century. Oxford.

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