Formen und Figuren des Gleichgewichts in Medien-, Kunst- und Literaturwissenschaft
Die aristotelische Ethik der "Mitte", Diätetik, Prästabilierte Harmonie, balance of powers und ausgleichende, poetische Gerechtigkeit, seelisches Gleichgewicht, gelungene Proportion, das ausgewogene Verhältnis zwischen Reden und Schweigen, die Position des Objekts im Raum der Kunst – mit diesen Formeln sind nur einige der prominenten Lehren adressiert, die eine konstitutive Idee des Äquilibriums implizieren. Die Denkfigur der Balance, der mit ihr eng assoziierte "Gleichgewichtssinn" sowie entsprechende kulturelle Praktiken verbinden so unterschiedliche Felder wie Politik, Geschichte, Recht, Ökonomie, Naturphilosophie, Anthropologie, Soziologie, Sportwissenschaft, Medientheorie, Psychologie, Philosophie, Kunst, Ethik und Ästhetik.
Aus der Perspektive kulturwissenschaftlicher Forschung war es angesichts dieser Sachlage erstaunlich, dass die Rede vom Gleichgewicht und die Sorge um dessen drohenden Verlust bisher keine interdisziplinären empirischen Studien und keine darauf aufbauende theoretische Reflexion auf sich gezogen hatten. Der Omnipräsenz von Ausgleichskonzepten steht das weitgehende Fehlen kultur-, diskurs- und medienwissenschaftlicher Arbeiten zum Thema gegenüber. Der Promotionsverbund zur Theorie der Balance widmete sich daher in gemeinsamer Arbeit diesem Desiderat interdisziplinärer Forschung.
Der Verbund wurde geleitet von Prof. Dr. Eckard Goebel, Prof. Dr. Robert Kirstein, Prof. Dr. Ernst Seidl und Prof. Dr. Guido Zurstiege.
Forschungsprogramm
Struktur des Promotionsverbunds
Der Promotionsverbund diente der weiteren Erschließung der als flexibles Modell gedachten Balance und bot Doktorand*innen die Möglichkeit, in enger Zusammenarbeit miteinander und mit den Projektleitenden weitere Kapitel zu Empirie, Geschichte und Theorie des Gleichgewichts in seinen zahlreichen Formen und Figuren zu schreiben. Je ein Vertreter aus der Medien- und Literaturwissenschaft sowie der Kunstgeschichte betreuten Dissertationsvorhaben, die im Folgenden genauer skizzierten zentralen Bausteinen des Themas gelten: Kommunikation, Objektwissenschaft, literarisch-philosophischer Diskurs.
Medienwissenschaftlich sollte Grundlagenforschung zur Balance der Kommunikation geleistet werden. In enger Abstimmung treaten Forschungen zu Grundbestimmungen der Proportion und des Gleichgewichts in der bildenden Kunst als eines konkreten Modus vielfach nonverbaler Kommunikation hinzu. Der Arbeitsbereich Komparatistik profitierte von dieser medien- und kunstwissenschaftlichen Grundlagenforschung, baute darauf auf und galt der Erschließung und Aufarbeitung von Facetten der historischen Semantik von Balance, wie sie sich dann im literarischen und philosophischen Diskurs artikuliert.
Wie der Blick auf das komplexe Thema des Verbunds zeigte, konnte das in einem relativ begrenzten Kontext erschlossene Material nur den Beginn weiterer Studien markieren, die in größerem Rahmen interdisziplinäre Forschungen etwa zur Ökonomie, Ökologie, Soziologie, Medizin, Ethnologie, Politikwissenschaft, Rhetorik oder Anthropologie einzubringen hätte. Es war daher geplant, den Promotionsverbund zur "Theorie der Balance" zu einem größeren Format auszuarbeiten.
Der fachlichen Kompetenz der Antragsteller entsprechend, war das Forschungsprogramm zur Theorie der Balance in drei Arbeitsbereiche aufgegliedert:
- Arbeitsbereich A widmete sich der Balance der Kommunikation;
- Arbeitsbereich B erforschte den Nexus zwischen Bild, Objekt und Raum als hoch variabler Manifestation von Gleichgewichtsmodellen und -konzepten;
- Arbeitsbereich C galt der Erforschung von Balance als Daseinsmetapher im literarischen und philosophischen Diskurs.
Arbeitsbereiche
Arbeitsbereich A: Balance der Kommunikation
Guido Zurstiege (Medienwissenschaft)
Die Stille mediatisierter Gesellschaften
Es gab zu allen Zeiten Gesellschaften, die im Verdacht standen, Epochen des gesteigerten Lärms zu sein. Und umgekehrt hat es in nahezu allen Epochen philosophische, mystische, romantische, kämpferische Stille-Diskurse gegeben. Mediatisierte Gesellschaften des 21. Jahrhunderts rechtfertigen den Verdacht laut zu sein unzweifelhaft in besonderer Weise. Kommunikation, Austausch, Gezwitscher, Getuschel und Getöse sind omnipräsent. Digitaler Stress, Leben in der Echo-Kammer, Tyrannei der Sozialität, teilnehmende Überwachung, Information-Overload, Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität – dies alles sind Symptome einer Gesellschaft, in der jeder permanent auf Empfang ist.
Arbeitsbereich A leistete einen Beitrag zur Erforschung dieser Symptome mediatisierter Gesellschaften. Es erbrachte diesen Beitrag jedoch ex contrario durch die systematische Hinwendung zu einem komplementären, in den meisten Forschungsdiskursen strikt ausgeblendeten Phänomen: der Stille. Dieser Zugang über die Kehrseite der Phänomene mediatisierter Gesellschaften hat Vorteile, die mit der Art und Weise zusammenhängen, wie Mediatisierung sich vollzieht.
Mediatisierung bedeutet zunächst, dass "Medienlogiken" immer mehr Raum greifen. Der Prozess der Mediatisierung vollzieht sich dabei als "Wahrnehmungsdisziplinierung" in zwei sich teilweise überlagernden Wellen, nämlich als Normierung sowie als Normalisierung des Medienhandelns. Im Zuge der voranschreitenden Mediatisierung geht Medienhandeln daher immer stärker in einem gleichsam natürlichen Rahmen auf und wird damit immer schwerer zu beobachten. Umgekehrt erfahren Stille und Medienverzicht eine enorme Aufwertung als Indikatoren für die Beobachtung des gegenläufigen Hauptstroms der gesellschaftlichen Entwicklung. Gerade dort, wo auf Kommunikation und Mediennutzung verzichtet wird, lassen sich jene Abwägungsprozesse zwischen Reden und Schweigen, Teilnahme und Verzicht klar beobachten, die in Zeiten der "Hyperkommunikation" aller mit allen im Hintergrund jeder Mediennutzung ablaufen. Wie verändert die Ubiquität medienvermittelter Kommunikation das Gespür für sowie die Funktion von Stille in unterschiedlichen lebensweltlichen Zusammenhängen? Welche Rolle spielen Medienverweigerung und Medienverzicht in einer Zeit der voranschreitenden Mediatisierung? Dies waren zentrale Fragen des Arbeitsbereichs A.
Arbeitsbereich B: Bild – Objekt – Raum
Ernst Seidl (Kunstgeschichte)
Balance, Komposition, Ponderation des (Bild-)Objekts im Raum
Das Bild ist immer Objekt im Raum. Ob physisch/analog, mental oder virtuell. Allerdings steht dieser Beobachtung die ebenso erstaunliche wie weitgehende Negierung solch grundlegender kontextueller Bedingungen seitens der Kunst- und Bildgeschichte gegenüber. Daher fokussierte Arbeitsbereich B Objektorientierung als kunstwissenschaftlich in mehrfacher Hinsicht überaus fruchtbar: Zum einen für die Entwicklung einer methodisch fundierten "Objektwissenschaft" und ihrer Gewichtung als Korrektiv für die derzeit materielle und räumliche Aspekte zu sehr vernachlässigende Bildwissenschaft; zum anderen für die Neubewertung und -nutzung der unerschlossenen Objektlagen in wissenschaftlichen Sammlungen und ihrer Gewichtung in Forschung, Lehre, Bildung.
Auch wenn es in Ansätzen bereits punktuell Ausnahmen gab – zu denken wäre hier etwa an Martin Warnkes zum stehenden Begriff gewordene Wahrnehmung von "Bau und Gegenbau", mit dem schon auf die Frage von Ponderation und Balance auf ganz verschiedenen Ebenen, eben nicht nur räumlichen, abgehoben wurde –, so riskiert doch derzeit die universitäre Kunstgeschichte vor dem Hintergrund der stark wachsenden Relevanz großer, eben nicht nur künstlerischer, sondern wissenschaftlicher Sammlungen an Universitäten ihre Marginalisierung durch die einseitige Vernachlässigung objektorientierter Wissenskontexte und durch ihre teilweise dingfernen theoretischen Ansätze. Dem sollte der kunstwissenschaftlich orientierte Arbeitsbereich B mit seinem Fokus auf die Balance von Objekt- und Bildqualitäten produktiv entgegenwirken. Entwickelt wurde damit unter anderem eine fachübergreifende Perspektive nicht zuletzt auf Sammlung und Raum.
Arbeitsbereich C: Balance als Daseinsmetapher
Eckart Goebel (Komparatistik)
Hans Blumenberg hat im Anhang zur Studie über Schiffbruch mit Zuschauer (1979) unter dem Titel "Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit" die Idee der "Daseinsmetapher" eingeführt, die Metaphern terminologisch erfasst, welche den Vollzug menschlichen Lebens insgesamt bebildern, um den Vollzug des latent vom Sinnlosigkeitsverdacht heimgesuchten Lebens "verständlicher" bzw. "sinnvoller" werden zu lassen. Die Rede von der "Lebensreise", die dem Dasein ein "Ziel" und dergestalt "Sinn" zuweist, wäre exemplarisch für eine Daseinsmetapher.
Die Ausgangshypothese im Arbeitsbereich C bestand in der Vermutung, dass es sich bei "Balance" ebenfalls um eine Daseinsmetapher im Sinne Blumenbergs handelt, die nicht nur an der Schnittstelle des literarischen und des philosophischen Diskurses, sondern eben auch, als "Sinn für Gleichgewicht", an der Schnittstelle somatischer Erfahrung und Denkarbeit steht: Taumel, Schwindel, Absturz, Wirbel, Strudel, Mahlstrom – immer wieder werden die Angstphantasien der Philosophie von der Antike bis ins 21. Jahrhundert durch Metaphern für drohenden Kontrollverlust bebildert, die durchweg ins Register eines zumindest zeitweiligen Verlusts des körperlichen Gleichgewichts gehören. Bereits 1895 identifizieren Freud und Breuer in den Studien zur Hysterie daher das "seelische Gleichgewicht" als das Telos einer seinerzeit revolutionären Form der Psychotherapie. – Umgekehrt integriert etwa der Inbegriff von Schönheit (in) der Bewegung, den das 18. Jahrhundert formuliert – Grazie – die theologische Sphäre – Gnade (grace, grâce) von oben –, vollendete körperliche Proportion/Bewegung mit moralischer Perfektion.
Am Beispiel der Grazie lässt sich erläutern, wie die drei Arbeitsbereiche zur Theorie der Balance produktiv miteinander verwoben waren: Die von Winckelmann geprägte Formel des deutschen Klassizismus von der "edlen Einfalt und der stillen Größe" gewinnt ihre (auch empirisch fundierte) aktualisierte Substanz erst vor dem Hintergrund von Studien zur Balance der Kommunikation zwischen Reden und Schweigen, Lärm und Stille, wie auch mit Blick auf Studien zur Objekttheorie, hier konkret zur Position der Skulptur im Raum. Um Balance als Daseinsmetapher beschreiben zu können, ist die ideengeschichtliche bzw. metaphorologische Arbeit auf intensiven Austausch mit der Medien- und Kunstwissenschaft angewiesen.
Vorschläge für mögliche Dissertationsvorhaben
Arbeitsbereich A
Projekt 1: Die Balance der Medien- und Kommunikationstheorie
Die Medien- und Kommunikationsforschung wird fast ausnahmslos durch eine Startoperation getragen: Im Fokus steht Kommunikation im Sinne der Mitteilung von Information. So fügen sich die gesammelten Beobachtungen im Feld der Medien- und Kommunikationsforschung zu einer gleichsam halbierten Theorie der gesellschaftlichen Kommunikation. Eine zentrale Herausforderung der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Forschung besteht daher zunächst einmal darin, etablierte Theorien im Feld der Medien- und Kommunikationsforschung auf ihre impliziten Konzeptionen weitgehend ausgeblendeter Phänomene der Stille, des Schweigens, des Medienverzichts hin zu befragen. Welche impliziten Vorstellungen von Stille und Schweigen liegen Theorien der Medienwirkung zugrunde? Welche impliziten Annahmen machen Theorien der Nachrichtenselektion? Wie lassen sich medientheoretisch maximal fesselnde Medien wie das Kino von Medien unterscheiden, die eine strikte Rollentrennung zwischen Sprechen und Hören aufweichen?
Projekt 2: Die Balance des Medienprogramms
Noch nie zuvor standen rund und die Uhr so vielen Menschen so viele unterschiedliche Medien zur Verfügung wie heute. Im Zuge der Ausweitung des Medienangebots in den zurückliegenden Jahrzehnten, sind Pausen, Unterbrechungen und Lücken im Programm der Medien zunehmend gestopft worden und der der "Flow" hat sich als dominantes Prinzip der Programmplanung etabliert. In welcher Form und an welchen Stellen ereignet sich Stille, sind Unterbrechungen und Brüche für Rezipienten in den Medien heute erlebbar und welche Bedeutung besitzt Stille in diesen Zusammenhängen? Um diese Fragen könnte es in diesem empirischen Projekt etwa auf der Grundlage von Inhaltsanalysen gehen. Aber auch medienhistorische Analysen von Programmschemata oder Diskursanalysen von professionellen Diskursen, in denen es um die voranschreitende Füllung von Programmlücken geht, sind im Rahmen dieses Projekts denkbar.
Projekt 3: Die Balance des Medienpublikums und der Mediennutzer
Da sich Mediatisierung als Prozess der Normierung von Medienhandeln vollzieht und das "im Bilde sein" sowie die kommunikative Verfügbarkeit sozialen Verpflichtungscharakter besitzen, stellt sich die Frage, was unter diesen Bedingungen der bewusste Verzicht auf oder die bewusste Abkehr von den Medien bedeutet. Gibt es Menschen, die bewusst auf Medien verzichten; wenn ja, warum und mit welchen Folgen tun sie dies? Wer kann es sich heute überhaupt leisten, still zu sein, keine Medien zu nutzen, Medien abzuschalten? Wer darf in diesem Sinne still sein, ohne dafür sozial sanktioniert zu werden? Ist still zu sein in einer Gesellschaft, die durch zunehmende Beschleunigung sowie den Zwang zur Selbstdarstellung gekennzeichnet ist, überhaupt noch sozial akzeptabel? Haben Individuen noch die Fähigkeit zur Stille und zur Besinnung, wenn funktionierendes soziales Miteinander schnelles Umschalten, Reagieren und aktives Gestalten erfordert? Wird Stille überhaupt als eine Ressource wahrgenommen oder nur als eine Barriere auf dem Weg der individuellen Zielerreichung? Um solche Fragen könnte es in diesem empirischen Projekt gehen. Methodisch bieten sich qualitative Interviews oder Gruppendiskussionen an. Möglich wären qualitative Interviews mit Menschen, die ostentativ auf bestimmte Medien verzichten, die nach exzessivem Mediengebrauch im klinischen Rahmen das Aushalten von Stille wieder neu erlernen müssen, die in der Familie Mediennutzungspausen miteinander aushandeln, die aufgrund ihres sozioökonomischen Status nur begrenzten Zugang zu Medien haben etc.
Arbeitsbereich B
Projekt 1: Die Balance von Bild-Objekten im Raum
Seit einiger Zeit wird im Fachgebiet der materiellen Kultur ("material culture studies") angestrebt, Aspekte des objektorientierten Diskurses mit anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu verbinden. Wie Bildungs- und Forschungsinitiativen zeigen, bietet dieser interdisziplinäre Ansatz neue Erkenntnisse bezüglich der Gewichtung von Objekten und der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat. In der Annahme, dass diese gegenseitige Befruchtung neue Sichtweisen auf materielle Kultur und Auseinandersetzungen mit Objekten auslöst, könnte das Teilprojekt die Beziehung zwischen Fragestellungen der Wahrnehmung, der physischen Ponderation im Raum, mithin der Balance, und die damit verbundenen sozialen und politischen Implikationen analysieren.
Projekt 2: Objekte gewichten
Der Schwerpunkt liegt hier auf der Frage, wie vermeintlich unterschiedliche Bereiche die Praxis der wissenschaftlichen Analyse einerseits und die des Sammelns, Ausstellens und Erhaltens von Objekten andererseits bestimmen. Das Projekt "Objekte gewichten" fördert das Nachdenken über die Materialität von Objekten und Artefakten im Moment ihres Eintritts in eine Sammlung, eine Ausstellung oder ein Museum und den damit verbundenen Wandel von Raum, Kontext und Diskurs.
Projekt 3: Symmetrische Komposition im urbanen Raum
Die im Forschungsprojekt 3 gestellte Frage bezieht sich auf die Wahrnehmung im Raum – hier von urbanen Raumtypen. Diese sollte grundlegend die kulturgeschichtliche Bedeutung des räumlichen "Gleichgewichtsprinzips" der städtebaulichen Achse untersuchen. Dabei könnte eine historisch vergleichende Analyse von der Prämisse ausgehen, wonach der öffentliche Raum der Stadt eine große visuelle Macht auf den Menschen ausübt und daher als Erinnerungsbild des sozialen Gedächtnisses wirksam wird. Unter allen urbanen Raumformen ist es insbesondere die Achse als gebautes symmetrisches Ordnungsschema der räumlichen Balance, das starke Suggestionskraft auf den Menschen ausübt. Deshalb wurde die Zentralperspektive seit der Entdeckung ihrer exakten Konstruierbarkeit im 15. Jahrhundert und schließlich seit ihrem Heraustreten aus dem zweidimensionalen Bild in den Raum der Stadt im 16. Jahrhundert bis heute an den zentralen Orten der Gesellschaft zum Einsatz gebracht.
Arbeitsbereich C
Projekt 1: Studien zur historischen Semantik von Balance
Eine Aufarbeitung der historischen Semantik von Balance liegt bislang nicht vor; Kapitel daraus könnten hier geschrieben werden. Die präzisere Bestimmung von Balance als Daseinsmetapher kann als Desiderat der Forschung gelten, sowohl mit Blick auf die Zeit um 1800 wie mit Blick auf die Zeit danach: Die gesamte ästhetische Theorie der "Artistik" zwischen Zirkus und poésie pure etwa stellt de facto einen Beitrag zur Theorie der Balance vor, wie auch die Philosophie das Thema weiter intensiv verfolgt. Als Emblem kann hier die überdeterminierte Seiltänzer-Szene gelten, die den Zarathustra Friedrich Nietzsches eröffnet.
Projekt 2: Theorie der Grazie
Der von Winckelmann in die ästhetische Theorie eingeführte Begriff der Grazie markiert exakt den Punkt, an dem theologische, moralische und medizinische Diskurse sich schneiden, so dass Winckelmann selbst enthusiastisch versucht war, vom vollendet schönen Körper auf moralische Überlegenheit zu schließen und damit die Interpretation des mens sana in corpore sano – ein klassisches Statement zur Balance-Theorie – in ein neues, verführerisches Extrem zu treiben. Zwar liegen einzelne Studien zur Grazie vor, doch sind die bisherigen Lexikoneinträge, Monographien und populärwissenschaftlichen Bücher ergänzungsbedürftig geblieben.
Projekt 3: Theorien des Klassischen zwischen Regelpoetik und Körpertheorie
Wie die von Lessing über Hirt bis Goethe, Schopenhauer und weit darüber hinaus geführte Laokoon-Debatte beispielhaft zeigt, informieren sich der medizinische und der ästhetische Diskurs wechselseitig. In dem Projekt könnte es daher etwa um den medizinisch und auch sportlich informierten Körper der Klassik gehen, aber auch darum, dass Hinweise auf eine gelungene Balance vielfach, mehr oder minder bewusst, klassizistisches Erbe lancieren. Das Klassische, Sinnvolle, Geglückte, die poetische Selbstreflexion und das ethisch Vorbildliche treten hier im Zeichen der Balance zur Einheit zusammen. Die Erforschung der diskursiven Integrationsleistung von Balance-Konzepten als listig verschwiegener Transporteure klassizistischer Ideale könnte Gegenstand eines weiteren Promotionsvorhabens sein.
Studienprogramm
Den Antragstellern war die sorgfältige und individuelle Betreuung ihrer Doktorand_innen zentrales Anliegen ihrer universitären Tätigkeit. Neben dem geteilten Interesse an der Thematik ist es vor allem das Bestreben, die Infrastruktur für eine erfolgreiche Begleitung von Dissertationsprojekten zu verbessern, was den Promotionsverbund zur Theorie der Balance prägt. Das in enger Absprache zu realisierende Programm sah zunächst klassische Formate vor, die eine gute Dissertationsbetreuung gewährleisten: Regelmäßige Doktorandenkolloquien boten die Gelegenheit, die Ergebnisse der jeweiligen Arbeit in der interdisziplinären Gruppe vorzustellen, aber auch die Möglichkeit zum gemeinsamen Studium fächerübergreifender Basistexte.
Nach US-amerikanischem Vorbild ergänzten darüber hinaus graduate student conferences sowie Workshops das Programm. Eine enge Kooperation mit der Tübinger Graduiertenakademie war vorgesehen. Die Projektleiter waren ferner an der weiteren Ausgestaltung der strategischen Partnerschaft der Universität Tübingen mit der UNC, Chapel Hill, beteiligt. Der Promotionsverbund erarbeitete weitere Möglichkeiten zur Vertiefung der Zusammenarbeit mit UNC, etwa in Form eines bisher nicht etablierten Austauschprogramms.
Als Direktor des MUT verband Ernst Seidl drei ideale Voraussetzungen für den Promotionsverbund: Zum einen bot er die methodische Objekt- und Strukturperspektive der Kunstgeschichte, zum anderen konnte er die Infrastruktur von über 70 wissenschaftlichen Sammlungen an der Universität Tübingen einbringen und schließlich die aktive curriculare und theoretische Einbindung der Promovierenden in den Lehrverbund des Masterprofils Museum & Sammlungen an der Universität Tübingen anbieten.
Der von Eckart Goebel geleitete Arbeitsbereich Internationale Literaturen (IL) ist strukturell eingebettet in das Deutsche Seminar der Universität Tübingen. Forschung und Lehre der IL unterhalten ein interdisziplinäres Forum moderner Komparatistik. Der Arbeitsbereich IL ist an der Uni Tübingen als Mischpult der Philologien definiert und stellt in jedem Semester ein interdisziplinäres Ensemble ausgewählter Veranstaltungen mit komparatistischer, philosophischer und kulturtheoretischer Ausrichtung zusammen. Der Arbeitsbereich IL ist als Ort des offenen Dialogs, kritischer Theorie und des Wissenstransfers zwischen den Philologien und anderen Disziplinen konzipiert.
Guido Zurstiege ist in viele interdisziplinäre Diskussionszusammenhänge eingebunden, dies betrifft Kooperationen mit der Tübinger Sportwissenschaft ebenso wie mit der Psychosomatik des UKT, der Ethik (IZEW) oder der Sozial- und Kognitionspsychologie des Leibniz-Instituts für Wissensmedien. Da der Promotionsverbund als Vorstufe eines größeren Verbundforschungsprojekts geplant war, konnte das Projekt stark von dieser fachlichen Vernetzung profitieren.