Beim Schatz des Monats November 2024 handelt es sich um die Federzeichnung einer kolonialen Fotographie aus der Ethnologischen Sammlung.
„Eine Anzahl Weiber lief bei unserem Näherkommen herbei und vertiefte sich in den Anblick einer weißen Frau. Krämer wollte dieses Bild, da alle mich umringend auf mich blickten, photographisch festhalten, doch fesselte im letzten Augenblick dann der Apparat ihre Aufmerksamkeit noch mehr.“
So beschreibt Elisabeth Krämer-Bannow eine Szene in ihrer Publikation „Bei den kunstsinnigen Kannibalen der Südsee. Wanderungen auf Neu-Mecklenburg“ aus dem Jahr 1916. Dieser schriftliche Eintrag macht deutlich, dass ihr Ehemann, der deutsche Marinestabsarzt, Ethnologe und Begründer der ethnologischen Sammlung in Tübingen, Augustin Krämer, die Szene fotografisch festgehalten haben muss. Ein entsprechendes Glasnegativ ist in der Ethnologischen Sammlung des Asien-Orient-Instituts der Universität Tübingen erhalten. Um die koloniale Fotografie nicht zu reproduzieren und eine Darstellung in kolonialer Manier zu vermeiden, bei der Frauen ohne ihre Zustimmung mit entblößten Oberkörpern gezeigt werden, wird an dieser Stelle eine von Krämer-Bannow angefertigte Federzeichnung verwendet. Die Federzeichnung ist in ihrer Publikation neben dem schriftlichen Eintrag zu finden.
Die Fotografie selbst entstand während der sogenannten Deutschen Marine-Expedition 1907–1909. Sie zeigt Elisabeth Krämer-Bannow in Weiß gekleidet, zusammen mit den Menschen der Herkunftsgesellschaft an einem Zaun stehend. Laut dem Verweis in ihrer Publikation sind die Menschen auf der Aufnahme bei Pflanzungsarbeiten zu sehen. Sie alle blicken, mit Ausnahme von Krämer-Bannow, in Richtung des Fotoapparates, der auf sie gerichtet ist. Krämer-Bannow hat ihren weißen Hut abgesetzt und hält ihn in der Hand, während sie mit der anderen Hand den Zaun berührt und ihren Blick auf die Bewohnerinnen und Bewohner der Insel richtet.
Dieses Aufeinandertreffen des Ehepaars Krämer und der Herkunftsgemeinschaft erfolgte am 10. März 1909 an der Westküste der damaligen deutschen Kolonie „Neu-Mecklenburg“, der heutigen Insel Neuirland in Papua-Neuguinea. Bei der Betrachtung der Fotografie stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Elisabeth Krämer-Bannow und auch Augustin Krämer zu den Menschen dort standen. War diese Inszenierung eine bewusste Darstellung von Nähe, die ein inniges Verhältnis zu den Bewohnerinnen und Bewohnern abbilden sollte? Indem sie den Zaun mit ihrer Hand berührt und sich somit in unmittelbarer Nähe zu den Personen befindet, kann dies einerseits – trotz des Zauns, der normalerweise eine Trennung impliziert – als symbolischer Ausdruck von Nähe und Interaktion verstanden werden. Andererseits verstärken sowohl der Zaun als auch ihre weiße Kleidung den Eindruck einer klaren sozialen und kulturellen Distanz. Die Personen, die auf Krämer-Bannows Seite des Zauns stehen, könnten die dort lebenden Menschen sein, die die „Reisenden“ auf ihren „Erkundungen“ begleitet haben, da sie im nachfolgenden Abschnitt zwei der Männer benennt.
Die vermeintliche Zufälligkeit dieser Begegnung und ihrer fotografischen Dokumentation, könnte Teil einer bewussten Inszenierung gewesen sein, um eine freundschaftliche Interaktion zwischen den „Forschenden“ und der lokalen Bevölkerung von Neuirland darzustellen. Solche Aufnahmen verschleiern die kolonialen Machtstrukturen, die selbst friedlich wirkende wissenschaftliche „Expeditionen“ begleiteten und das Leben der lokalen Bevölkerung unter kolonialer Herrschaft bestimmten. Das Kolonialregime sorgte dafür, dass die Interessen der Kolonialmächte – einschließlich wissenschaftlicher „Erkundungen“ – durchgesetzt wurden. Der sichtbare Unterschied zwischen Krämer-Bannows heller Kleidung und der überwiegend unbekleideten Bevölkerung unterstreicht dabei die Differenzen und die Hierarchien dieser Begegnungen – dies war eine der Motivationen Fotografien zu nutzen.
Im Rahmen von drei Praxisseminaren haben sich Studierende mit den „Expeditionen“ der Krämers beschäftigt und sich kritisch mit deren Fotografien, Aquarellen und hinterlassenen Objekten auseinandergesetzt. Die Ergebnisse werden im Januar 2025 in einer Online-Ausstellung der Ethnologie und des MUT präsentiert.
Diellëza Hyseni