Beim Schatz des Monats Januar 2024 handelt es sich um eine Figur aus Mammutelfenbein
1931 wurde die Vogelherdhöhle bei Niederstotzingen im Lonetal auf der Schwäbischen Alb unter Leitung des Tübinger Prähistorikers Gustav Riek vollständig ausgegraben. Die archäologischen Horizonte IV und V waren die fundreichsten Schichten in der Höhle. Das Alter der Funde aus den Schichten IV und V liegt zwischen 35 000 und 40 000 Jahren. Diese Zeitspanne datiert in die archäologische Kultur des sogenannten Aurignaciens, der ersten paneuropäischen Kultur der eiszeitlichen Homo sapiens in Europa. Kleine Plastiken aus Mammutelfenbein machten die heutige UNESCO-Welterbe-Höhle berühmt. Eine Figur davon ist ein fragmentierter, unbestimmter Tierkörper, der vom Ausgräber Riek der älteren Schicht V zugewiesen wurde. Die Figur ist aus drei Fragmenten zusammengesetzt. Die linke Körperhälfte ist im Wesentlichen erhalten. Kopf und Schwanz fehlen und die Beine sind nur in Ansätzen erkennbar. Die Tierfigur misst 6,4 cm in der Länge und ist 2,6 cm hoch. Der schlanke Rumpf könnte als Rentierkörper oder als Körper einer Großkatze interpretiert werden.
Das Spannende an der Figur sind die außergewöhnlichen Gravierungen, welche die gesamte Figur bedecken. Sie überschneiden sich aber nicht. Es handelt sich um insgesamt 23 Muster, die Ewa Dutkiewicz identifizierte. Diese Muster werden aus 44 Linien, 28 Kerben und 45 Punkten gebildet. Alle Markierungen sind durch Gebrauch geglättet. Man erkennt U-förmige Linien, radial angelegte Kerben, parallele Linien, einfache Kerben und Linien sowie mehrere Punktreihen. Die Muster zeigen eine hohe Variabilität auf der vergleichsweisen kleinen Oberfläche des Tierkörpers. Sie folgen keiner Körperform oder der natürlichen Fellzeichnung eines Tieres. Die Muster sind ausgedacht und zeugen von großer Kreativität der eiszeitlichen Schnitzerin oder des eiszeitlichen Schnitzers. Die Interpretation der Muster bleibt ungewiss, aber die Motive und die Art der Anbringung sind einzigartig im Schwäbischen Aurignacien. Verschiedene Muster wurden miteinander kombiniert und die gesamte Figur wurde mit den tiefen Gravierungen überzogen. Solche Gravierungen kann man auf keiner anderen Tierfigur beobachten, obgleich mittlerweile über 60 Figuren und Figurenfragmente aus dem Schwäbischen Aurignacien bekannt sind. Eine Ausnahme bildet ein Fragment, das unter Leitung von Nicholas Conard im Abraum vor der Vogelherdhöhle ausgegraben wurde. Es zeigt dieselbe Art von Verzierung und Oberflächenbeschaffenheit wie die Figur des unbestimmten Tieres aus der Grabung 1931. Es kann zwar nicht direkt daran angesetzt werden, gehört jedoch mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu der heute fragmentarisch vorliegenden Figur. Die Muster auf dieser Figur scheinen einer Gesamtkonzeption zu folgen, denn die Abstände zwischen den Mustern sind annähernd gleich und keine Muster überschneiden sich. Auch die Tiefe und die Art der sorgfältig gesetzten Schnitte ähneln sich. Dutkiewicz schließt deswegen daraus, dass diese Markierungen in einem Arbeitsgang komponiert und angebracht wurden. Das wiederum bedeutet, dass eine Person die Figur verziert hat. Folglich liegt ein Unikat vor, dekoriert von einem eiszeitlichen Individuum. Rund 40 000 Jahre später können wir die Figur und damit die Kunstfertigkeit und den Einfallsreichtum dieses eizeitlichen Schöpfers im MUT bewundern.
Dr. Sibylle Wolf
Literaturtipp: E. Dutkiewicz. Zeichen. Markierungen, Muster und Symbole im Schwäbischen Aurignacien. Tübingen: Kerns Verlag.