Beim Schatz des Monats Juni 2024 handelt es sich um den Torso einer Dilukai-Figur.
Das Objekt „Torso einer Dilukai-Figur“ befindet sich in der ethnologischen Sammlung Tübingens, die als Teil des Museums der Universität auf dem Schloss Hohentübingen besichtigt werden kann. Sie wurde von dem Gründer des ethnologischen Instituts, Augustin Krämer, nach Tübingen gebracht. Dilukai sind geschnitzte weibliche Figuren, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts an der Front von Versammlungshäusern (bai) in Palau angebracht waren. Auf den mikronesischen Inseln Palaus existieren heute noch wenige dieser Versammlungshäuser. Allerdings sind keine Dilukai mehr angebracht. Dieses Objekt ist nur der obere Teil der Figur, es fehlt der untere Teil mit gespreizten Oberschenkeln und dem Intimbereich. Es ist unklar, was mit dem Rest der Figur passiert ist. Die Figur ist aus Hartholz geschnitzt und mit Naturfarben bemalt. Am linken Arm ist ein Armband und um den Hals trägt sie eine Kette.
Das bekannte Wissen über die Figuren stammt von Ethnologen, die Palau um 1900 besucht haben. Hinsichtlich des damaligen rassistischen und kolonialen Gedankengutes sind die Informationen, die sie ermittelt haben, allerdings kritisch zu hinterfragen
Die Figuren wurden aus dem Holz der vorletzten Giebelplanke herausgeschnitzt, weshalb hier eine Verbindung zwischen dem Rücken der Dilukai und dem Haus besteht. Die schwarze Linie am Hals deutet an, dass der Kopf nachträglich aufgesetzt wurde. Sie trägt eine bachel-Münze als Kette und ein deruar-Armband, der Schmuck zeigt einen höheren Status der Frau an. Laut den vorhandenen ethnologischen Berichten soll die Dilukai-Figur eine móngol, eine Frau, die für eine Weile im bai lebte, darstellen. Bais fungierten als Treffpunkt für, wie Krämer sie nannte, Männerklubs. Die Aufgaben dieser Klubs beinhalteten Ausführung von Gemeindearbeiten, Schutz des Dorfes und Durchsetzung der Beschlüsse der Rubak, der Dorfältesten. Jeder Männerklub hatte ein bai in dem das Klubleben stattfand und zum Teil auch geschlafen wurde. Örtliche Frauen durften bais nicht betreten, der Zugang stand nur Frauen aus fremden Dorfgemeinschaften als móngol frei. Laut Augustin Krämer, lebten die móngol etwa drei Monate in einem Klubhaus. Die Frauen nahmen am Leben der Klubmitglieder teil, kümmerten sich um das bai und wählte eine Bezugsperson für die Zeit aus. Am Ende ihrer Zeit im bai wurde die móngol bezahlt und machte sich auf den Weg nach Hause. Ein Ethnologe, der im 19. Jahrhundert auf Palau war, verschriftlichte eine Ursprungslegende, die er von den Bewohnenden erfuhr. Aus der Legende lässt sich schließen, dass die Dilukai-Figuren wahrscheinlich angebracht wurden, um vor Inzest zu warnen oder zu zeigen, dass hier armóngol (Pl.) vorübergehend leben. Eine weitere Deutung sind die Dilukai als Schutz vor Krankheiten und Unheil. Durch den präsentierten Intimbereich kann es auch als Fruchtbarkeitssymbol gedeutet werden. Allerdings sind diese Vermutungen, aufgrund des Verschwindens der Dilukai-Figuren, nicht bestätigt. Denn die armóngol wurden durch die deutsche Kolonialregierung 1905 verboten. Das Verbot ist eine mögliche Erklärung für das Verschwinden der Dilukai-Figuren.
Ab dem Jahr 1919 baute Krämer an der Universität Tübingen das damals „völkerkundliches Institut“, heute die Abteilung der Ethnologie, auf. In diesem Kontext übergab er seine private Sammlung mitgebrachter Objekte der Universität Tübingen, viele davon sind heute noch Teil der ethnologischen Sammlung. Darunter auch die Dilukai-Figur. Krämer, eigentlich ausgebildeter Mediziner, unternahm mehrere Forschungsreisen nach Ozeanien, wofür er vom Reichskolonialamt finanziell unterstützt wurde. 1909 erwarb er auf einer seiner Forschungsreisen nach Palau die Dilukai-Figur. Obwohl Überlieferungen auf einen Kauf hindeuten, sind die genauen Umstände unbekannt, wie bei vielen anderen der mitgebrachten Objekte. Es lässt sich größtenteils nicht sagen, ob sie rechtmäßig erworben wurden.
Im Rahmen eines interdisziplinären Seminars des Museums der Universität Tübingen und der Abteilung Ethnologie erarbeiten Studierende kulturelle Hintergründe und die Herkunft der Objekte, die Krämer aus Palau mitbrachte. Ihre Ergebnisse werden in eine kolonial-kritische Ausstellung münden. Schon bald werden im Museum zudem zwei Schautafeln einer Studierenden-Initiative zu sehen sein, die sich kritisch mit Krämers Person auseinandersetzen.
Svenja Hankiewicz